Zerfetzt

Da waren sie, meine Ankläger, stolz und selbstgerecht, schieben mir alle Schuld in die Schuhe, bezichtigen mich des Ehebruchs und meinen noch frech: „Du hast es doch selbst so gewollt, du Nutte!“

„Zerfetzt“ – Acryl auf Leinwand © hsr

Doch eines verdanke ich ihnen: sie brachten mich zu Jesus und machten mich mit ihm bekannt, allerdings auf unfeine und entwürdigende Art. Sie provozierten Jesus, er solle doch endlich das Kommando, für den „Steine-Hagel“ geben.

Doch dieser Mann, Jesus, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, er bückt sich und malt in den Sand. Überhört er sie? Überhört er sie bewusst? Minuten werden für mich zu Stunden. Was wird aus mir? Mein Leben hängt an einem einzigen Faden.

„Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“

Mit diesem Wort verscheucht er sie, einer nach dem andern zieht seinen Schwanz ein und schleicht davon. Nun bin ich mit diesem sonderbaren Mann, Jesus, allein. Ich fühle mich innerlich gespalten – ambivalent: Zum einen schätze ich es sehr, dass er mich vor diesen Männern geschützt hat; zum andern habe ich Angst, dass dieser Mann meine Verletzlichkeit ausnutzt und mich als Freiwild behandelt.

Dann steht er auf und sieht mir in die Augen: Er nimmt das Gespräch mit mir auf, so, als ob wir auf einer Ebene stünden, mit mir – einer Frau! Ich wäre am liebsten vor lauter Scham in den Boden versunken.

Er fragt mich nach meinen Anklägern. Will er aus meinem eigenen Mund die Wahrheit hören, dass es für mich keine Ankläger mehr gibt, weil er sie mundtot gemacht hat? Will er mir meine neugewonnene Weite und meinen neuen Handlungsspielraum bewusst machen, wo ich wieder ganz Frau sein kann?

„Dann will ich Dich auch nicht verurteilen.“

Diese Worte klingen wie Balsam für meine Seele. Inneres Aufatmen. Jesus spricht mich von aller Scham und Schuld frei. Dieser Mann, Jesus, behandelt mich als wertvolle, ebenbürtige Frau. Er holt mich heraus aus meiner Opferrolle und meiner Selbstverdammnis und übergibt mir selbst die Verantwortung für mein Leben, damit ich mich nicht selbst wieder knechten lasse.

Nach dem Lesen der Geschichte aus dem Neuen Testament (Johannesevangelium Kapitel 8)

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