Die zweite Art der Chemo

Bei den Injektionen von Carbo-Platin überfällt mich nach kurzer Zeit bleierne Müdigkeit, so dass ich nur noch vor mich hindösen kann. Anfangs versuche ich Lobpreismusik zu hören und in einer göttlichen Sprache, die Gott mir gemäß 1. Korintherbrief Kapitel 14 Vers 4 zur inneren Stärkung geschenkt hat, zu beten. Doch danach will ich nur noch schlummern. Wieder sind Erbrechen, Übelkeit und Müdigkeit die Begleiterscheinungen. Noch zwölf Male diese Prozedur– das klingt unendlich lang! Ich spüre, wie diese wöchentlichen Chemos meinen Glauben auf Echtheit prüft.

In einem Gottesdienst singen wir das Lied „Allein durch Gnade steh ich hier“ von Urban Life. Ich kannte es vorher nicht. Eine Zeile berührt mich tief: „Durchbohrte Hände halten mich“

Ja, Jesus, du hältst mich und du hältst mich aus.

Diese Zeile aus dem Lied spricht mich so tief an, dass ich sie während einem offenen Atelier, das von der Klinik für Krebspatienten Freitag nachmittags angeboten wird, in einer Collage verarbeite:

Collage „Durchbohrte Hände halten mich“ © hsr

Hauptsache gesund? Haariges (Teil 2)

Ich nehme häufig die Aussage „Hauptsache gesund!“ in meinem Umfeld wahr, während mein Verdauungstrakt mal wieder streikt. Stimmt dieses Statement? Auch heute zu Covid-19 Zeiten werden wir in unserer Gesellschaft damit konfrontiert: „Bleiben Sie gesund!“ Doch Gesundheit ist etwas, das wir nicht machen können, die wir nicht im Griff haben. Dieser Kontrollverlust fühlt sich nicht gut an. Für mich ist Gesundheit eine Gabe Gottes. Meinen wir (und ich schließe mich mit ein) nicht oft, wir hätten Gesundheit verdient? Und bei Abhandenkommen klagen wir Gott an?

Wie denkst du darüber?

Ich möchte einen Perspektivwechsel vornehmen und den Geber der Gesundheit mehr lieben als sein Geschenk. Dabei zeigt drei Wochen nach der ersten Chemo dieses Zellgift schon Wirkung, so dass mir im Büschel die Haare ausfallen, wenn ich mich kämme. Ich rufe den Friseur an, um mir noch in derselben Woche die Haare abrasieren zu lassen und die schon ausgewählte Perücke zu kaufen.

Jesus, hilf mir, mich selbst mit diesem kahlen Kopf zu lieben und hilf auch meinem Mann!

Dann empfinde ich, dass Jesus mir ins Ohr flüstert:

„Meine Kleine, ich habe dich lieb. Ich küsse deinen kahlen Kopf und streichle ihn liebevoll. Ich werde deine Schönheit wiederherstellen – schöner als zuvor! Und ich mache keine halben Sachen.“

Der folgende Vers aus der Bibel fällt mir ein und ich verinnerliche ihn, indem ich ihn in mein „Mutmachbuch“ schreibe.

Jesaja 61, 3 – Schrift und Buntstiftzeichnung © hsr

Am ersten Morgen nach der Rasur stehe ich ganz früh auf und fotografiere ich mich. Meine Seele muss mit der Art meines neuen Aussehens erst hinterherkommen und dies verdauen. Als Glatzkopf herumlaufen, das möchte ich meinem Mann und der Familie, die uns ab und zu besucht, nicht zumuten. Ich probiere die Perücke aus. Sie ist gut, doch an den vielen Sommertagen ist sie mir zu warm. Ich versuche es mit einem Schlauchtuch oder einem Mützchen. Das ist schon angenehmer. Doch dadurch bekommen die Nachbarn und der Postbote mit, was mit mir los ist. Will ich das? Das ist für viele ein Schock, da sie an die Tragödie der ersten Frau meines Mannes mit demselben Krankheitsbild vor nur 5 Jahren erinnert werden. Auch da lerne ich mit dem Schock der anderen Leute umzugehen. Zuhause möchte ich mich zeigen, wie ich bin und auch mal ohne Perücke, doch mit Mützchen als Kopfbedeckung, in den Garten oder an die Haustüre gehen.

Selbstportrait mit Mützchen © hsr

Haariges – Teil 1

Meine Haare verlieren – oh nein!

Tränen kullern aus meinen Augen. Dabei habe ich so schöne, dunkelblonde Haare. Schon als Kind wuchsen sie und waren dick und füllig. Ich war stolz darauf. Haare sind ja schließlich die Ehre der Frau.

So glatzköpfig herumlaufen – ist das nicht eine Art „entehrt werden“? Ich will das nicht!

Bei einem Gottesdienst in der Kirchengemeinde vom Nachbarort sehe ich von weitem eine Frau mit Mützchen und schönen Ohrringen. Wahrscheinlich hat sie eine ähnliche Diagnose und auch Chemotherapie bekommen. Ich kenne diese Frau nicht. Ich staune, dass sie so viel Mut hat, sich so zu zeigen, dass jeder sehen kann, was sie hat bzw. was sie nicht hat.

Und dann fängt Jesus, plötzlich an, über meine Haare zu reden:

„Ich nehme dir deine äußere Schönheit für eine Zeitspanne weg, um deine innere Schönheit noch weiter aufzubauen. Bist du dazu bereit?“

Ich schlucke und lasse meinen Tränen freien Lauf. Dieser angekündigte Verlust meiner Haare schmerzt mich tief.

Eine langjährige Freundin kommt am Wochenende zu Besuch. Ich frage sie, ob sie bereit sei, mit mir zu einem speziellen Friseur für Perücken zu gehen und mir beizustehen und mich zu beraten. Bei diesem Friseur probiere ich viele Perücken aus, doch bei den meisten merke ich, dass so eine gestylte Frisur zu mir und meiner unkomplizierten Art nicht passt.

„Im Haarstudio mit meiner Perücke“ © hsr

Na gut, ich habe mich mit dem Thema auseinander gesetzt. Aber ich habe die Haare ja noch!

In mein Tagebuch umschreibe ich einen Bibelvers, der mir wichtig wird:

Gott hat mir nicht einen Geist der Angst – vor Krankheit, Krankenhaus, Chemotherapie, Haarausfall oder Unpässlichkeit – gegeben, sondern einen Geist der Liebe, der Kraft und der Selbstbeherrschung. (2. Timotheus 1,7).

Kopfkino Krebs

Krebs – das Unwort des Jahres

Opfer – ich? Nein danke!

Perücke – keiner merkt mein

Fehlendes Haar – Versteckspiel!

Krank – offiziell schon – ich sehe mich nicht so

Instabil eher

Niemand will mit mir tauschen

OP kurz und schmerzlos

Kreisende Gedanken

Ruhelosigkeit

Erzähl sie mir, sagt Gott!

Bitte schön…

Schon spüre ich Entlastung.